Wenn man die vielen versunkenen, die durch Kirchgänger abgetretenen Grabsteine, die über ihren Grabmälern selbst zusammengestürzten Kirchen erblickt, so kann einem das Leben nach dem Tode doch immer wie ein zweites Leben vorkommen, in das man nun im Bilde, in der Überschrift, eintritt und länger darin verweilt als in dem eigentlichen lebendigen Leben. Aber auch dieses Bild, dieses zweite Dasein, verlischt früher oder später. Wie über die Menschen so auch über die Denkmäler lässt sich die Zeit ihr Recht nicht nehmen.
- Johann Wolfgang von Goethe
Die Wahlverwandtschaften
Tanzartig, wie eine Partitur, wirken Gestalten, Körperfragmente und durch sie vermittelte Gesten als Synonyme für noch etwas Anderes, Unerklärliches, auf den von ihnen unmittelbar Angesprochenen ein. Ihr Verwandeltes setzt verschiedene Gedanken und Empfindungen frei – nur, wohin führen sie? Was tritt dem Betrachtenden gegenüber, mannshoch und eindringlich?
Es sind nicht so sehr Tod und Verwesung, die Ästhetik des Verschwindenden oder Verschwundenen, das wieder Auftauchen des freigelegt Zersetzten, der Grab-, der archäologischen Fundstätte. Es ist auch nicht (nur) Erinnerung. Erkennbar wird das Wirken eines gegenwärtigen Prozesses, eines Jetzt, als Direktes, Reales, Sprechendes. Allmählich entwickelt sich in Dialog. Die Bilder jenseits des Bildes sammeln in sich Substanzen, von denen Fragen ausgehen, die zunächst keine anderen Antworten provozieren und zulassen als ein Verstummen. Mit ihm ist mehr verbunden als das Schweigen vor dem Toten, denn was auf uns einwirkt, ist auch etwas Lebendiges, das einem anderen Zustand entspringt, vergleichbar vielleicht der Anschaulichkeit von Totenporträts auf den Holztafeln aus Fayum, die der Wüstensand konserviert hat (am Ursprung der Ikone!) oder der Porträtfiguren auf den Grabplatten der Renaissance. Und wieder hält die Analogie nicht stand, weil wir hier ein Ganzes nur aus dem Fragment gewinnen oder aus dem Gereihten dieser Tafeln. Sie scheinen einen Weg darzustellen, lassen uns von ihm aber zugleich wieder abirren. Unbeholfene Verwirrung entsteht: Wohin soll sich denken, wer vor ihnen steht? Worin könnte ihre Botschaft bestehen, wenn wir ihr auf den Grund kommen möchten, was vielleicht oder mit einiger Gewissheit ohnedies nicht möglich ist, weil die Intentionen dessen widersprechend, der diese Tafeln zwischen Physischem und Metaphysischem, zwischen Natur und dem schuf, was sich aus ihr löst? Was geht verloren, was wird gewonnen?
Der sich vorsichtig vorantastende Interpret bewegt sich auf Zwischenböden. Und erkennt, wie ein Künstler nach Symbolen für das Nichtdarstellbare im Tauchen in den Seelenkeller such. Das Materielle löst sich auf, und auf seinen Resten setzt sich ab, was Anton Christian sein fluides Denken nennt. Es kreist um das Alter, den Verfall, ein neues Werden. Der Künstler geht in ein Institut für Altersforschung und sucht dem Phänomen auf physiologischer, medizinisch-sozialer, dann literarisch-philosophischer Basis auf die Spur zu kommen. Begleiten wir ihn dabei in Form eines Exkurses zur Philosophie des Alterns mit ein paar Beispielen der Möglichkeit, darüber nachzudenken, was rascher eintritt, als wir denken (dachten) – nichts läuft schneller als die Jahre, sagt Ovid.
Romano Guardini hatte die erste Lebensgestalt wie in Porträt, die zweite (im Altwerden) wie eine Melodie verstanden. Die Gewichte verändern sich, Maßstäbe neuer Art werden deutlich. Vom Bewahren eines Gleichgewichts des Lebens sprach der Philosoph Hans Georg Gadamer. Jean Améry (1968, im Todesjahr Guardinis) erlebt nur Mühsal und Drangsal, nimmt sich später das Leben. Simone de Beauvoir denkt sich in ihrem von Anton Christian gelesenen Buch La Veilesse eine Existenzphase mit eigenem Gleichgewicht, wovon wir im allgemeinen weit entfernt seien. Der eben neunzigjährig verstorbene Philosoph Hans Jonas bekannte 1992, er fühle sich als Fremdling in der Welt, auch die Kunst der Zeit sei ihm fremd (aber vielleicht hätte er Christians Annäherung an das Thema verstanden?), Sterblichkeit empfinde er als Segen. Karl Popper freut sich über immer noch mögliche kleine Fortschritte. Der Theologe Karl Rahner denkt sich als Achtzigjähriger, die radikale Zäsur des Sterbens fürchtend, den Untergang als Anfang erfahren zu können, wenn die Engel des Todes all den unwichtigen Müll aus unserem Leben, einer kurzen Explosion unserer Freiheit, hinausgetragen haben.
Nun macht sich der Künstler daran, Fährten für das zu Ergründende zu legen. Findet sein Material auf einem Schrottplatz: rostige von Naturmalerei besetzte Flächen. Festigt deren sich zersetzenden Untergrund und hantiert auf ihnen mit Bienenwachs, Metallen (Zinn, Eisen, Aluminium) sowie Polyesterharzen. Und erzeugt daraus einen Kreislauf, in den der Betrachter einbezogen wird, in dem er steht, der ihn einem Zuvor, einem Jetzt und einem Danach auf vielverzweigte Weise zuordnet.
So arbeitet er am Versuch einer Darstellung jenes großen Gedächtnisses, in das ein Menschenleben eintritt, das bestimmt wird durch seine Sinne, mittels derer er sich orientiert, durch die er auf ihn bedrängende Phänomene reagiert: Das sind Schmerz, Angst, Einsamkeit, Armut, Immobilität. Zuletzt mündet alles in blauer Erinnerung, einem großen Zusammenschluss, der einbezieht, was die Über-Sinne angeht. Aber dazwischen gibt es das Fühlen, Erkennen von Verlusten, wie es Christian auf diesen Tafeln markiert hat, auch durch Benennungen, deren Fragmente sichtbar bleiben. Eine Kette von Assoziationen, Berührungspunkten, Parallelen zum unmittelbar Erfahrbaren, Gegenwärtigen, Schrecklichen entsteht, aber Totenbilder, Epitaphe (zum Grab Gehörendes im griechischen Ursinn), sind es nicht, sollen es eigentlich nicht sein. Vielmehr handelt es sich um ein Halten, Anhalten im Strom, der uns durchzieht und den wir durchschwimmen, an dem wir stehen und Botschaften aussenden von Ufer zu Ufer, wobei Stricke zerreißen und Leitern zerbrechen, sich auflösen, während wir im ewigen Fortgehen ein ewiges Wiederkehren erhoffen. Von diesen Tafeln werden Gedankenströme ausgelöst – es strömt ja auch in ihnen selbst –, und es bilden sich Wohnstätten für Ephemeres, Übergleitendes; Orte, an denen sich Schwingungen assimilieren, die vom Gelebten ausgehen, ausgegangen sind. Wir befinden uns nicht an irgendwelchen Grufträndern und dem sich vor ihnen ausbreitenden Schweigen, sondern inmitten eines Geflüsters, das an den Grenzen zwischen der Vor- und der Nachwelt entsteht.
- Kristian Sotriffer
Der gesamte Zyklus ist im Besitz des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum und dort permanent ausgestellt.